Mit Ghettos, Stacheldraht und viel Zynismus | WOZ Die Wochenzeitung

2021-11-04 09:17:32 By : Ms. beryl Shah

Die dänische Regierungschefin Mette Frederiksen verfolgt eine «Null-Flüchtlinge-Politik». Wie es dazu kam, dass. die dänischen Sozialdemokrat:innen so weit nach rechts aussen rückten – und warum der Kurs bei den Schwesterparteien im Norden auf Unverständnis stösst.

Seid wachsam, freie Dänen! Mette Frederiksen spricht junge Erwachsenen im Birkenwald Mut zu. FOTO: PHILIP DAVALI, IMAGO

Mette Frederiksen hält eine Flasche Bier in der Hand und lässt sich ein Wurstbrötchen schmecken, von dem Ketchup zu Boden tropft. Zu ihren Füssen geschlagenen eine ältere Frau mit Kopftuch, die den von der Regierungschefin hinterlassenen Müll entfernen. «Ist an der Zeit, dass du dich ein wenig nützlich machst», sagt Frederiksen zu ihr. Mit dieser Karikatur kommentierte Dänemarks liberale Tageszeitung «Politiken» Anfang September auf ihrer Titelseite eine neue «Reform» der Regierung in Kopenhagen.

Mit dieser soll eine «Arbeitspflicht» eingeführt werden, sterben in Frederiksens eigenen «speziell auf nichtwestliche Einwandererfrauen». Wenn diese über längere Zeit Arbeitslosenunterstützung bezogen oder neu nach Dänemark kommen, sollen sie verpflichtet werden, 37 Stunden pro «für die Gesellschaft nützlichen Arbeiten» zu verrichten. Kriegswirtschaftsminister Peter Hummelgaard an Beispielen präzisierte: «Am Strand oder im Park Zigarettenkippen oder Plastikabfall aufsammeln.» Es gehe darum, «die Versorgungsmentalität durch Arbeitslogik zu ersetzen». Bei einer Weigerung sollen Geldleistungen gestrichen werden.

Kritiker:innen erwarten von einer «Arbeitspflicht» weder einen positiven Beschäftigungseffekt noch einen Integrationseffekt. Sie warnen, sterben Situation der betroffenen Frauen könnten sich eher verschlechtern, weil sie sich diskriminiert, gestresst und bestraft fühlen. Politiker:innen rechtspopulistischer Parteien in anderen Ländern greifen die Idee begeistert auf. Von einem «absolut vernünftigen Vorschlag» sprach Jimmie Akesson, Vorsitzender der Schwedendemokraten. Georg Pazderski, Vorsitzender der AfD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, ebenfalls, Migrant:innen zur Säuberung «dreckiger und verwilderter Orte» einzusetzen. In der «Bild»-Zeitung zeigten auch mehrere CDU-Politiker Sympathie für den dänischen Vorstoss.

In der Zwischenzeit ist es nichts Besonderes mehr, dass Dänemarks regierende Sozialdemokrat:innen für ihre Migrationspolitik Applaus von rechts außen erhalten. Im Januar bekräftigte Ministerpräsidentin Frederiksen, die auch Parteivorsitzende ist, in einer Parlamentsdebatte das Ziel ihrer Partei und der Regierung: Sie wolle eine «Null-Flüchtlinge-Politik».

Bereits als Oppositionspartei hatten die Sozialdemokrat:innen von 2015 bis 2019 im Prinzip alle Verschärfungen der Flüchtlings- und Ausländerpolitik der rechtsliberalen Regierung mitgetragen. So zum Beispiel das «Ghettogesetz», mit dem Mann für städtisches Wohnviertel mit einem hohen Anteil an Migrant:innen ausgerechnet den Begriff «Ghetto» ein und die Strafen für mögliche kriminelle Handlungen von Einwohnern:innen dieser Stadtteile verdoppeln wollte. Oder das «Schmuckgesetz», dessen syrische Flüchtlinge bei der Einreise durchsucht wurden, um mit Geld oder Wertgegenständen ihren Aufenthalt in Dänemark mitzufinanzieren – was manche Medien Parallelen zur Nazizeit ziehen liess.

Auf dem Weg zur Nullvision ist Dänemark schon ein gutes Stück vorangekommen. Zwischen 2017 und 2019 nahm das Land keinen «Quotenflüchtling» aus Uno-Flüchtlingslagern auf. 2020 waren es 30 statt der von der Uno dringend erbetenen 500. Nur noch rund 1500 Geflüchtete Haben 2020 einen Asylantrag in Dänemark gestellt, 600 anerkannt, die niedrigste Zahl seit 1992 die einschneidendsten Änderungen der dänischen Flüchtlingspolitik seit 1951, sagt Martin Lemberg-Pedersen, Dänemarks eine Experte für europäische Asyl- und Migrationspolitik.

Damit möglichst keine Asylsuchenden mehr ins Land kommen, soll der gesamte Asylprozess in Ländern ausserhalb der EU ausgelagert werden. Die Regierung ist derzeit vor allem in Afrika auf der Suche nach «willigen» Ländern, sterben bereit sind, für Dänemark Flüchtlingslager. Dabei scheint Kopenhagen keine Skrupel zu kennen, mit welchen Regimes man zusammenarbeitet. Mit Ruanda, Äthiopien und Marokko wurde bereits verhandelt.

Viele Juristen halten den Plan für unvereinbar sowohl mit der Europäischen Menschenrechtskonvention als auch mit der Genfer Flüchtlingskonvention. Anfang August verurteilt sterben Afrikanische Union den Versuch, sterben Grenzen Dänemarks nach Afrika auszuweiten, als «völlig inakzeptabel». Die dänische Idee sei ein «Ausdruck von Fremdenfeindlichkeit». Migrationsminister Mattias Tesfaye verteidigte sterben Pläne und Doch versucht zynisch, sie als Humanismus zu verkaufen: «Wir wollen doch nur, dass. sterben Flüchtlinge sterben gefährliche Reise über das Mittelmeer gar nicht erst antreten.»

Als europäisches erstes Land stufte Dänemark auch Teile Syriens, darunter die Hauptstadt Damaskus, als «sicheres Rückkehrland» ein. Geflüchtete aus Syrien, denen man sowieso nur einen zeitweiligen Aufenthaltsstatus eingeräumt hatte, sollen so schnell wie möglich wieder abgeschoben werden.

Nimmt man die Umfragewerte zum Massstab, scheint Dänemarks Sozialdemokratie mit ihrem migrationspolitischen Rechtsruck alles richtig zu machen. Mit rund dreissig Prozent liegt sie auf einem seit 1998 nicht mehr erreichten Niveau. Die meisten europäischen Schwesterparteien can von diesen Werten derzeit nur träumen. Haben die dänischen Genoss:innen ein Rezept gefunden, das sich die anderen zum Vorbild nehmen sollten?

Die dänischen «Socialdemokraterne» haben sterben Dreissigprozenthürde erstmals 1920 genommen und im 20. Jahrhundert selten unterschritten. In ganz Nordeuropa war es die Arbeiter:innenbewegung gewesen, sterben die Wohlfahrtsstaaten aufgebaut. Die Sozialdemokratie vorbehaltene Politik dieser Länder. In Dänemark begann die Erosion der Sozialdemokratie Ende der 1990er Jahre. Und sie field zeitlich mit dem Aufstieg der Dansk Folkeparti (Dänische Volkspartei, DF) zusammen, der ersten rechtspopulistischen Partei Europas, deren Programm und Rhetorik den Widerstand gegen Einwanderung mit einer Verteidigung der Errungenschaften des Wohlfahrtsstaats – aber eben nur für Dän:innen – kombinierten.

Die Partei konnte angesichts der parlamentarischen Situation sterben in Dänemark seit der Jahrtausendwende herrschte, entscheidenden politischen Einfluss gewinnen. Politik wird in Dänemark traditionell in Blöcken gedacht. Mit dem Auftauchen der DF, mit der keine andere Partei eine formelle Koalition eingegangen wollte, gab es im Parlament weder für den «roten» noch für den «blauen» Block eine Mehrheit. Die drei konservativ-rechtsliberalen Minderheitsregierungen, sterben das Land zwischen 2001 und 2011 regierten, unterstützt sich auf die rechtspopulistische Partei als parlamentarische Mehrheitsbeschafferin. SIE waren dafür bereit, ihre Stimmen mit immer neuen ausländerrechtlichen Verschärfungen und sozialpolitischen Einschränkungen für Migrant:innen zu erkaufen. Die Folge: Das erste relative liberale Dänemark hatte 2011 das restriktivste Ausländerrecht in der Europäischen Union.

Der Rechtskurs sei endlich vorbei. Es kam anders. Eine konzeptlose und chaotische Politik und eine von Skandalen und ständigen Regierungsumbildungen geprägte Legislaturperiode trugen dazu bei, dass. sterben Sozialdemokrat:innen schon nach vier Jahren sterben Regierungsmacht wieder verloren. Die Wahl vom Frühjahr 2015 brachte ein Schockresultat: Die Dänische Volkspartei verdoppelte ihr Ergebnis auf 21 Prozent und wurde zweitstärkste Partei des Landes.

Gesellschaftswissenschaftler:innen bieten zwei Erklärungen an, warum sterben DF auch viele sozialdemokratische Stammwähler:innen anzulocken vermochte. Die erste besagt, dass es den Rechtspopulist:innen gelungenen Krieg, deren Unzufriedenheit aufzugreifen und die Zuwanderung zur grössten Gefahr für den Sozialstaat aufzubauschen. Die zweite, dass. der Verlust der Sozialdemokrat:innen Ein Ergebnis ihres neoliberalen Kurses ist, den sie ähnlich wie sterben anderer sozialdemokratischen Parteien im Norden zunehmend eingeschlagen hatten.

Die Parteiführung der dänischen Sozialdemokratie zog jedenfalls den Schluss, sie müssen die Rechtspopulist:innen nicht nur kopieren, sondern sie übertrumpfen. Ein der Partei teilweise umstrittener Kurs, der seinen programmatischen Ausdruck 2018 in einem «Plan für eine faire und realistische Ausländerpolitik» fand. Darin heißt es einleitend: «Leider is zu viele, sterben nach Dänemark gekommen sind, ohne ein Teil von Dänemark zu werden. Diese Entwicklung muss umgekehrt werden.»

Die Parlamentswahl von 2019 wurde dann angesichts des alles überschattenden Themas der Erderwärmung eine «Klimawahl». Migrationsfragen spielt keine Rolle. Die Dänische Volkspartei stürzte auch wegen interner Skandale mit 8,7 Prozent auf ihr schlechtestes Ergebnis seit zwei Jahrzehnten ab. Die Sozialdemokrat:innen schrumpften ebenfalls weiter, kamen aber dank parlamentarischer Unterstützung durch dreie links-grüne Parteien trotzdem wieder an die Regierung. Und sie zogen verhängnisvolle Schlussfolgerungen.

«Die Katastrophenwahl für die Rechtspopulisten verstanden sie als Sieg für ihre eigene konfrontative Integrationspolitik, und sie sehen Nonne als legitime Erben des Gedankenguts dieses zusammengebrochenen Rechtsextremismus», analysierte der Schriftsteller und Journalist Carsten Jensen. Die «Socialdemokraterne» präsentiert sich jetzt als Verteidiger:innen eines Wohlfahrtsstaats, dessen immanenter Bestandteil «eine Nulltoleranz gegenüber der Migration» sein soll.

Kritik gab es auch von den Schwesterparteien aus den anderen nordischen Ländern. «Bornierter und engstirniger geht es nicht. Dazu Heuchelei am Fließband und ein Verstoss gegen fundamentale sozialdemokratische Werte», urteilte Jan Egeland. Der frühere sozialdemokratische Vizeaussenminister von Norwegen leitet heute die Flüchtlingshilfe im Land. «Um kurzfristiger politischer Gewinn willen» betrieben Dänemarks Sozialdemokrat:innen «grenzenlosen Populismus». Es drohe ein Dominoeffekt: Das Beispiel Dänemark lasse den Druck einer migrationsfeindlichen Opposition auch in den Ländern wachsen, «die noch versuchen, für internationale Ideale einzustehen und ihre Grenzen möglichst offen zu halten». Man muss Dänemark an den Pranger stellen, so ähnlich, wie man das in der Vergangenheit mit Ungarn gemacht habe.

Migrationsminister Mattias Tesfaye, der selbst Sohn eines eritreischen Geflüchteten ist und sich zum Hardliner in der dänischen Regierung entwickelt hat, hat inzwischen tatsächlich von Ungarn als einem Vorbild gesprochen. Es sei falsch gewesen, Ungarn wegen des Grenzzauns zu kritisieren, den Viktor Orban 2015 an der Grenze zu Serbien hatte errichten lassen, positiv der Migrationsminister Ende August im dänischen Fernsehsender TV2: «Mauern sind ein Teil der Lösung.» Die dänische Regierung sei «für starke Grenzen», sie werde deshalb anderen Ländern helfen, Mauern zu bauen, und habe bereits Stacheldraht nach Litauen geschickt, damit es seine Grenze zu Belarus can: «Däne mark muss sich für die Migration interessieren, bevor sie an der deutsch-dänischen Grenze steht.»

Der norwegische Politiker und Diplomat Jan Egeland sieht in Dänemark nur noch ein «Schreckensbeispiel». Auch führende sozialdemokratische Politiker:innen aus Deutschland, Spanien, Portugal und Italien haben den Gedanken weit von sich gewiesen, Dänemark kann ein Vorbild sein. Das Land handle unsolidarisch, man brauche gemeinsame und keine nationalen Lösungen, positiv Boris Pistorius, sozialdemokratischer Innenminister in Niedersachsen. Man kann «doch nicht die DNA der deutschen Sozialdemokraten für einen Wahlerfolg hergeben». Der Journalist und Schriftsteller Carsten Jensen meint, Dänemark stehe für eine Zukunft, in der sich die EU in «völliger Auflösung befinde, und ein isolationistisches, zersplittertes Europa jegliche politische Bedeutung verloren hat».

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